Es ist Dezember 2021 und es weihnachtet. Allerdings ähnlich schwierig wie im Vorjahr. Die Weihnachtsmärkte mussten schließen, und die Besinnlichkeit wird von Maßnahmen getrübt. Ich bin wegen meiner Frau momentan viel in Regensburg, und wir haben am Dom einen kleinen Innenhof entdeckt, der mit Tischen, Wärmelampen und Holzöfen etwas weihnachtlich daherkommt. Mehr brauche ich eigentlich nicht. Weihnachtsmärkte mit vielen Menschen gehörten noch nie zu meinen Lieblingsorten – auch vor Corona nicht. Und während ich auf der Karte eine Wahl zwischen Glühwein, Glühwein mit Schuss und alkoholfreiem Glühwein treffen muss, denke ich: „Was ist eigentlich aus dem guten alten Verkehrt-herum-Tag geworden? Wenn du Kinder hast, weißt du, was ich meine. Wenn nicht, lass es mich kurz erklären.
Beim Verkehrt-herum-Tag macht man alles – Obacht – verkehrt herum. Dieser Tag wird von deinem Kind eingeleitet, wenn es dir am Morgen sagt: ‚Heute ist Verkehrt-herum-Tag‘. Meist sind das recht harmlose Dinge, die an diesem Tag passieren. Man begrüßt sich am Morgen mit „Guten Abend“ oder isst das Mittagessen unter, statt auf dem Tisch. Also, keine extremen Handlung, wie frühmorgens schon Rotwein trinken. Aber ein solcher Tag ist gut,um uns aus allen Gewohnheiten herauszureißen. Alles, was wir sonst im Autopilotmodus jeden Tag herunterspulen, wird für einen Tag auf den Kopf gestellt. Etwas anders zu machen, kann wundervolle Impulse für neue Ideen geben.
Unser Weihnachtsbaum zum Beispiel. So lange ich denken kann, wurde der Baum am 24.12. am späten Mittag geschmückt. In den ersten Jahren ohne mich; irgendwann mit mir. Mit einem Schlag war plötzlich Weihnachten. Meist begleitet mit dem Satz: ‚Mir ist irgendwie noch gar nicht nach Weihnachten.‘ Und so schnell wie es gekommen ist, war Weihnachten auch wieder vorbei. Das war für ein halbes Jahrhundert meine Normalität und wurde nie hinterfragt. Vor zwei Jahren haben wir mit dieser langen Tradition gebrochen und den Weihnachtsbaum zwei Wochen vor Weihnachten aufgestellt und geschmückt. Zu unserer Überraschung mussten wir feststellen, dass das richtig schön war.
Ich stelle jetzt mal die Theorie auf, dass der Verkehrt-herum-Tag psychologisch extrem wichtig ist, um im späteren Leben eine gute Resilienz aufzubauen. Die Fähigkeit, auf neue, unerwartete Begebenheiten reagieren zu können. Und nichts ist in meinen Augen im Rückblick auf die Corona-Pandemie wichtiger, als eine gute Resilienz zu besitzen.
Für mich bedeutet das Leben grundsätzlich Veränderung, Lernen, Weiterdenken, sich von anderen Dingen auch mal überzeugen zu lassen, sich selbst zu hinterfragen, nach vorne zu gucken und mutig zu sein. Was bei Kindern der Verkehrt-herum-Tag ist, nennt sich bei Erwachsenen heute Out of the Box-Denken. Raus aus dem Gewohnten, rein in das Abstrakte, das Ungewisse. Firmen suchen inzwischen gezielt Mitarbeiter, die anders denken.
Aber wo, frage ich mich, soll dieses anders Denken herkommen, wenn in frühen Jahren die Schulnoten in Deutsch und Mathe wichtiger sind, als die in Kunst und Musik? Wo und wie soll sich kreatives Denken entwickeln, wenn man es so früh schon ausbremst? Und während ich darüber nachdenke, wie ich in Zukunft mit dieser neuen Idee professionell Geld verdienen kann, fragt mich die Bedienung in dem Regensburger Innenhof, was ich denn nun trinken möchte. Ich antworte:“Einen alkoholfreien Glühwein mit Schuss, bitte.“
